Bleibt stark. Bleibt bunt. Und bleibt gesund!

Queer in Zeiten von Corona.

Liebe Freund*innen!

In den letzten Wochen mussten wir feststellen, wie verletzlich unsere Gesellschaft ist. Mehr als je zuvor sind wir alle dazu aufgerufen, solidarisch für die Gemeinschaft einzustehen.

Die Corona-Krise bestimmt die Medien und den öffentlichen Diskurs, genau wie den politischen Betrieb. Viele Entscheidungen müssen schnell getroffen werden, damit sich der gesundheitliche, soziale und wirtschaftliche Schaden einigermaßen in Grenze hält. Das ist richtig und wichtig. Dabei entsteht vielleicht schnell das Gefühl, dass manche Anliegen nicht mehr bearbeitet oder als nicht so wichtig hinten angestellt werden.

Wir wenden uns heute an Euch, um Euch zu sagen: Die Anliegen der queeren Community bleiben im Blick. Wir arbeiten weiter an dem Ausbau von Schutz und Akzeptanz fördernden Maßnahmen und der Abschaffung von diskriminierenden Regelungen und Gesetzen gegenüber LSBTIQ*. Wir werden auch in der Corona-Krise nicht aufhören, auf den solidarischen Zusammenhalt zu setzen. Denn darin sind wir als LSBTIQ*-Community erprobt, auch wenn wir uns aktuell dabei nicht persönlich begegnen können.

Gerade jetzt beschäftigen uns viele Fragen, die sich akut und auch in den kommenden Wochen auf alle Aspekte, die unsere Community ausmachen, besonders auswirken. Bei wichtigen Maßnahmen, wie zum Beispiel den Regeln zur Reduzierung der sozialen Kontakte, um gemeinsam diese Krise zu bewältigen, zeichnet sich eins ab: Einige Maßnahmen, die gerade getroffen werden, fußen auf einem hetero-normativen Verständnis von Zusammenleben und nehmen die (Klein-)familie als Hauptbezugspunkt an. In manchen Bundesländern ist der persönliche Kontakt zu Personen außerhalb dieser (Klein-)familie derzeit nicht erlaubt.

Für marginalisierte Gruppen, die in unserer Gesellschaft sowieso schon im besonderen Maße vulnerabel sind, spitzt sich die Lage durch diese soziale Isolation zu und die Belastung steigt. Was bedeutet die Kontakt- und Ausgangsbegrenzungen und ihre normativen Ideen von Familie, Alltag und Zusammenleben für jeden einzelnen queeren Menschen, für Wohngemeinschaften, für Menschen, die nicht in Paarbeziehungen leben, oder die keinen Kontakt mehr – freiwillig oder unfreiwillig – zu ihrer Herkunftsfamilie haben, für all die Menschen, die mit einer Person zusammen wohnen und mit einer anderen das gemeinsame Kind erziehen oder deren zu Hause kein sicherer Ort ist? Wie wirkt sich die erhöhte
Polizeipräsenz aus? Muss ein nicht-normatives Leben nun an jeder Straßenecke gerechtfertigt werden?

  • Wir setzen uns dafür ein, die Lebensrealitäten von LSBTIQ* bei allen Maßnahmen zu berücksichtigen und die Kontaktbeschränkungen queer-sensibel zu denken.

Wie geht es Jugendlichen, die gerade nicht ihre Peers und Bezugsgruppen treffen können, aber immer noch unsicher sind, wie sie ihr Coming-Out oder ihre Transition gestalten sollen? An wen wenden sich Betroffene, wenn Beratungsstellen nicht mehr physisch erreichbar sind oder vielleicht ihr Angebot ganz einstellen mussten? Bekommen queere Jugendliche, die von häuslicher Gewalt bedroht oder betroffen sind, Informationen und Zugang zu Hilfestrukturen? Wenn die Grenzen weiter geschlossen bleiben, wie können wir dann Menschen helfen, die aus ihren Heimatländern vor LSBTIQ*-feindlichen Gesetzen und Übergriffen geflohen sind, um Gewalttaten und Morddrohungen zu entkommen, und jetzt in Flüchtlings-lager auf engstem Raum und in unhygienischen Verhältnissen zusammenleben müssen? Wie können wir weiterhin internationale Solidarität zeigen und diese Menschen unterstützen? Wie wirkt sich das Herunterfahren von medizinischer und psychosozialer Versorgung auf den Transitionsprozess oder die Personenstandsänderung aus?

In den Beratungsstrukturen und Verbänden, aber auch von vielen ehrenamtlich tätigen Einzelpersonen werden gerade alle Möglichkeiten ausgelotet über Telefon, Videoformate und andere digitale Möglichkeiten Beratung, Vernetzung und gegenseitige Unterstützung weiter zu ermöglichen. Allen Beteiligten gilt unser Dank für ihr großartiges Engagement!

  • Auch wir werden in der letzten Aprilwoche ein Webinar zu queerpolitischen Fragen in Zeiten von Corona anbieten, um mit euch ins Gespräch über die Lage der queeren Strukturen und die akuten Bedarfe der Community zu kommen.

Wie können in diesem Jahr unsere Prides aussehen? Wie kommen wir zur CSD-Saison zusammen, demonstrieren für unsere Rechte und feiern, was wir erreicht haben? Wie können wir dafür sorgen, dass der Zusammenhalt der Community sich nicht auflöst, wenn wir uns gerade nicht bei queeren Veranstaltungen sehen können und uns die geschützten Räume zum gemeinsamen Austausch und Feiern fehlen? Vielerorts wird darüber gerade
intensiv diskutiert.

  • Wir wollen mit Euch dazu im Kontakt bleiben und auch wir überlegen, wie auch wir einen Beitrag für eine lebendige CSD-Saison leisten können.

Lasst uns gemeinsam, auch in der derzeitigen Krise, weiter dafür streiten, dass wir unser Leben so offen, vielfältig und frei gestalten können, wie wir es wollen.
Bleibt stark. Bleibt bunt. Und bleibt gesund!


Herzliche, queere Grüße

Sven Lehmann und Ulle Schauws