Gruppennützige Forschung an Demenzkranken ist ein Tabubruch

Zur heutigen Abstimmung der gruppennützigen Forschung an nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen erklärt Ulle Schauws, Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen für die Wahlkreise Krefeld, Moers und Neukirchen-Vluyn:

„Man sollte keine bewährten Gesetze ändern, wenn es dafür keine triftigen Gründe gibt. Schon gar nicht, wenn durch eine Neuregelung Rechtsunsicherheit entsteht. Diese parlamentarische Grundregel hat die Mehrheit des Bundestages heute leider verletzt und trifft damit eine besonders schutzbedürftige Gruppe unserer Gesellschaft, nämlich Erwachsene, die durch eine Erkrankung ihre Zustimmungsfähigkeit zu Arzneimittelstudien verloren haben.

Die heutige Rechtssituation, die mit dem Europarecht im Einklang steht, ermöglicht Studien mit nichteinwilligungsfähigen Patienten nur dann, wenn von einem individuellen Nutzen auszugehen ist. Nun wird gruppennützige Forschung möglich, von der sie selbst nicht profitieren. Mit dieser Entscheidung werden Menschen, die nicht mehr die Tragweite ihrer Entscheidungen erfassen, zukünftig zu reinen Objekten der Forschung degradiert. Anstatt die Argumente aus Forschung und Wissenschaft sowie den Kirchen, die gegen eine solche Änderung laut geäußert wurden, zu verinnerlichen, stimmte die Mehrzahl der Abgeordneten für eine Auflockerung der Schutzstandards. Davon betroffen werden vor allem Menschen mit neurodegenerativen, z.B. dementiellen Erkrankungen sein.

Mit dieser Entscheidung wird sich bewusst über den einstimmigen Beschluss des Bundestags aus 2013 hinweggesetzt, der gerade darauf abzielte, das Schutzniveau für nichteinwilligungsfähige Erwachsene in Deutschland auf hohem Niveau zu erhalten. Noch im Referentenentwurf der Bundesregierung war diese Forschung weiterhin verboten. Im weiteren Verfahren jedoch hat Minister Gröhe ohne Not und ohne Vorankündigung, offensichtlich auf Zuruf einer einzelnen Interessengruppe eine rasante Kehrtwende hingelegt.

Die Aufhebung des Status Quo ist nicht nur unnötig, sondern auch medizinisch, juristisch und ethisch äußerst fraglich. Weltweit ist bisher keine einzige Studie auffindbar, für die Forschung mit Patienten z.B. mit schwerer Demenz unabdingbar ist. Gute und erfolgsversprechende Forschung setzt in frühen Stadien der Demenz ein, in denen die Menschen noch einwilligungsfähig sind. Für die Forschung in fortgeschrittenen Krankheitsstadien genügt ebenfalls die heute geltende Rechtslage. Um die Situation von Demenzkranken wirklich zu verbessern, müssen wir unser Engagement vor allem im Bereich nicht-pharmakologischer Maßnahmen ausbauen – bei der Verbesserung der Pflege und im Bereich der Prävention und Früherkennung von Demenz. Da bleibt die Bundesregierung aber tatenlos.

Zudem ist die durch die Neuregelung vorgesehene Konstruktion aus Vorausverfügung und ärztlicher Aufklärung juristisch zweifelhaft und praxisfern. Eine Vorausfügung kommt einer Blanko-Unterschrift gleich. Potentielle StudienteilnehmerInnen können nicht ansatzweise über mögliche Gefahren und Risiken aufgeklärt werden, wenn die Forschungsvorhaben zum Zeitpunkt der Aufklärung noch gar nicht bekannt sind. Medizinische und ethische Forschungsmindeststandards werden so mit Füßen getreten.

Mit der heutigen Abstimmung wurde nicht nur der Schutz für höchst vulnerable PatientInnen aufgeweicht, mit dieser weitreichenden Öffnung sind auch unabsehbare Folgen zum Nachteil der PatientInnen verbunden.“