Rede zum Haushalt 2016 für Familien, Senioren, Frauen und Jugend

Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Gestern war der Internationale Tag gegen Gewalt gegen Frauen. Darum will ich als Erstes die Frauen und Mädchen in den Blick nehmen, die aus Afrika, Syrien, Afghanistan und von anderswo in der Welt zu uns kommen und bei uns Schutz suchen. Sie fliehen vor Krieg, vor Verfolgung, vor Gewalt und häufig aus geschlechtsspezifischen Gründen. Viele von ihnen haben in ihren Heimatländern Schreckliches erlebt und sind traumatisiert. Auf der Flucht sind insbesondere sie als alleinreisende Frauen und Mädchen gefährdet und von sexualisierter Gewalt bedroht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass diese Mädchen und Frauen auch hier in den Flüchtlingsunterkünften vor Gewalt nicht sicher sind und sexualisierte Übergriffe erleben, kann uns nicht verwundern. Da sind wir als Bund genauso wie die Länder gefragt. Die Kommunen sind derzeit froh, die Flüchtlinge überhaupt unterzubringen. Trotzdem: Es muss auch über das Wie der Unterbringung und über die Mindeststandards, gerade für besonders Schutzbedürftige, gesprochen werden.

Es darf doch nicht sein, dass sich Frauen und Mädchen aus Angst vor sexuellen Übergriffen und Gewalt nicht mehr frei bewegen und Toiletten und Duschen meiden. Das gilt auch für lesbische, schwule, trans- oder intersexuelle Flüchtlinge. Nein, sie brauchen Rückzugsräume und abschließbare Sanitäreinrichtungen. Schutzbedürftige brauchen Sicherheit. Betroffene von Gewalt müssen zügig Beratung und Betreuung erhalten, wenn sie diese brauchen. Dazu gehört auch der Einsatz von Dolmetscherinnen. Zugang zu Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt und zu Gewaltschutzeinrichtungen muss gewährleistet werden, die Residenzpflicht darf dem nicht im Weg stehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Die im Bundeshaushalt eingestellten 3,75 Millionen Euro zur Unterstützung und Beratung von Flüchtlingsfrauen sind hier deutlich zu wenig. Wir fordern ein Bundesprogramm für Gewaltschutz für schutzbedürftige Flüchtlinge in Höhe von insgesamt 25 Millionen Euro. Wenn wir es versäumen, hier tatkräftig zu investieren, sind langfristige und belastende Folgen absehbar. Da müssen wir, finde ich, jetzt entschiedener handeln.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Noch eines: Posttraumatische Belastungsstörungen als eine Folge von sexualisierter Gewalt nicht mehr als erheblichen Grund gegen Abschiebung anzuerkennen und damit speziell Asylgründe für Frauen zu negieren – dazu sage ich Ihnen ganz klar: Das geht gar nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Frau Ministerin Schwesig, viel Neues im Sinne einer modernen Familienpolitik findet sich im Übrigen in Ihrem Etat nicht. Ich greife einmal vier Punkte heraus.

Erstens. Es freut uns, dass das Elterngeld so ein Erfolg ist, und dieser Erfolg ist mit Kosten verbunden. Punkt!

Zweitens. Es freut uns, dass das verfassungswidrige Betreuungsgeld vom Tisch ist. Aber wie gut hätte es der Kinder- und Familienpolitik getan, wenn die freiwerdenden Mittel im Haushalt geblieben wären? Wir alle wissen, dass es trotz Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz immer noch an Qualität in Kitas mangelt. All dies gewinnt jetzt mit Blick auf die neu zu uns kommenden Flüchtlingskinder an Bedeutung. Bisher ist unklar, was das für den Alltag in einer Kita tatsächlich bedeutet. Aber dass sich etwas ändern wird, das ist doch klar. Wenn man sich Ihre Schätzungen vor Augen führt, Frau Schwesig, 110 000 Kinder unter sechs Jahren, die allein dieses Jahr zu uns kommen, dann wird deutlich: Das, was Sie dafür an Mitteln in Ihrem Etat eingestellt haben, reicht nicht aus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Drittens. Wie gern hätten wir uns auch über die Erhöhung des Kinderzuschlags gefreut – Sie haben das eben erwähnt –, wäre er nicht derart mickrig ausgefallen. Dabei sind die Stellschrauben den meisten hier Anwesenden bekannt. Hätte die Koalition etwas mehr Engagement an den Tag gelegt und mehr an diesen Stellschrauben gedreht, dann hätte sie vielen mehr helfen können.

Viertens. Was mir gerade als frauenpolitische Sprecherin meiner Fraktion am Herzen liegt, ist die große Leerstelle bei den Alleinerziehenden und der Kinder- und Familienarmut. In Deutschland leben rund 1,6 Millionen Alleinerziehende mit ihren Kindern, ganz überwiegend Mütter. Sie arbeiten oft Vollzeit und managen den Familienalltag – rund um die Uhr im vollen Einsatz, oft ohne Atempause.

Vier von zehn Alleinerziehenden sind bei uns arm. Ein Drittel im SGB‑II‑Bezug ist gleichzeitig berufstätig und stockt auf. Fast jedes zweite Kind im ALG‑II‑Bezug wächst in einem Alleinerziehendenhaushalt auf. Das heißt, wenn man etwas gegen Kinderarmut machen möchte, dann muss man bei den Alleinerziehenden ansetzen. In einem so wohlhabenden Land wie unserem kann es doch nicht sein, dass wir Kinder-, Frauen- und Familienarmut in einem solchen Ausmaß zulassen. Da können und da müssen wir noch mehr gegensteuern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Evaluation der Ehe- und Familienförderung aus Ihrem Haus liegen auf dem Tisch, und da bleiben sie anscheinend auch liegen. Hier wird klar: Der Unterhaltsvorschuss hat einen deutlichen Einfluss auf das Armutsrisiko von Kindern. Aber anders als im Unterhaltsrecht endet die Zahlung des Unterhaltsvorschusses mit dem 13. Geburtstag des Kindes. Das geht komplett an der Realität vorbei.

Das Gleiche gilt für die Bezugsdauer. Sie ist nämlich auf sechs Jahre begrenzt. Das bedeutet im Falle einer Trennung – gerade wenn die Kinder noch jung sind –, dass Alleinerziehende ziemlich sicher den Zeitpunkt erreichen, an dem der Unterhaltsvorschuss wegfällt. Sie leben quasi auf die Armutsfalle hin. Was ist das für eine Perspektive? Was muten wir den so leistungsfähigen Alleinerziehenden – das sind vor allem Frauen – zu? Deshalb fordern wir, die Bezugsdauer aufzuheben und die Altersgrenze auf 18 Jahre anzuheben. Das wäre ein wesentlicher Schritt, viele Alleinerziehende und ihre Kinder aus der Armut zu holen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Michael Leutert [DIE LINKE])

Liebe Kolleginnen und Kollegen und auch liebe Frau Schwesig: Ich sage Ihnen, mit etwas mehr Mut hätten Sie diesen Einzelplan im Sinne von Frauen und Kindern und gegen deren Armut gerechter ausgestalten können. Sie haben eine große Chance vertan.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)