Rede zur Historikerkommission

 

Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Lengsfeld, ich finde schon, dass das, was Sie gerade gesagt haben, ein wenig am Thema vorbeigeht. Wenn Sie das, was Sie gerade ausgeführt haben, in Form eines Antrags hier einbringen wollen, können Sie das machen. Heute geht es aber um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Bundeskanzleramtes. Darüber reden wir hier.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Morgen Vormittag kommen wir hier im Bundestag zusammen, um gemeinsam des Endes des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren und der Befreiung vom menschenverachtenden System der Nazigewaltherrschaft zu gedenken. Genau darum geht es: Wir tragen Verantwortung für unsere Vergangenheit, und wir tragen Verantwortung für die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus. Das bedeutet auch, dass wir uns mit unserer deutschen Geschichte aktiv und kritisch auseinandersetzen und diese systematisch und schonungslos aufarbeiten müssen, Herr Lengsfeld. Das ist der Fokus, den wir heute hierauf legen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Das gilt neben privaten Institutionen und Unternehmen insbesondere auch für die NS-Vergangenheit der Ministerien und der Behörden des Bundes. Ihre Aufarbeitung steckt auch 70 Jahre nach Kriegsende in den Kinderschuhen. Weil wir in einer Kleinen Anfrage nachgefragt haben, liegen die Antworten hierzu heute auf dem Tisch, aus denen Sie zitiert haben.

(Jan Korte [DIE LINKE]: Genau!)

Sie haben nicht gesagt, dass das Bundeskanzleramt hier etwas gemacht hat. Es hat nämlich noch nichts gemacht. Das ist aus Ihren Worten ganz klar hervorgegangen.

Unter Rot-Grün hat 2005 der damalige Bundesaußenminister Joschka Fischer ein Forschungsprojekt zur NS‑Vergangenheit des Auswärtigen Amtes in Auftrag gegeben. Damit wurde ein längst überfälliger Schritt in Richtung Aufarbeitung gemacht. Fischer musste damals gegen erheblichen Widerstand angehen. Wichtig war aber, dass so eine gesellschaftliche Debatte in Gang kam.

Der 2010 veröffentlichte Abschlussbericht „Das Amt und die Vergangenheit“ entlarvte dabei eine lange aufrechterhaltene Legende. Das Auswärtige Amt war keinesfalls ein Hort des Widerstandes. Nein, es war tief in die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt. Es hat NS-Verbrechen nach außen gedeckt und war aktiv an ihnen beteiligt. Nur wenige der Diplomaten und Mitarbeiter wurden zur Rechenschaft gezogen. Viele haben ihre Karrieren nach dem Krieg fortgesetzt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das zeigt, wie wichtig Untersuchungen zu personellen und sachlichen Kontinuitäten in der Nachkriegszeit auch in anderen Bundesministerien und Behörden sind. Sie leisten einen entscheidenden Beitrag zur Klärung der Frage, warum nationalsozialistische und rassistische Einstellungen auch heute noch in unserer Gesellschaft bis weit in die Mitte hinein verbreitet sind. Und genau deshalb haben wir uns als grüne Bundestagsfraktion in den letzten Jahren mit zahlreichen Kleinen Anfragen und Anträgen dafür eingesetzt, dass die nach wie vor stockende Aufarbeitung vorangetrieben wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, es steht in Ihrem Koalitionsvertrag – die Bundesregierung hat es groß angekündigt –, die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Ministerien und Bundesbehörden voranzutreiben. Die Frage ist: Wo stehen Sie damit? Bis heute haben bei weitem nicht alle Bundesministerien ihre Vergangenheit im Dritten Reich und in der Nachkriegszeit beleuchtet. Einige haben, wie gesagt, noch nicht einmal damit begonnen.

Aber dass auch das Bundeskanzleramt sich bis heute davor drückt, seine Geschichte von einer Historikerkommission aufarbeiten zu lassen, das, muss ich sagen, ist wirklich skandalös.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Fadenscheinige Begründungen, historische Forschung sei grundsätzlich Aufgabe der Wissenschaft oder Akteneinsicht beim Bundesarchiv könne zu Forschungszwecken ermöglicht werden, bedeuten doch keinen verantwortungsvollen Umgang mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Es reicht auch nicht aus, auf die Aufarbeitung der Vergangenheit des BND zu verweisen. Ich sage ganz klar: Das Kanzleramt darf sich nicht länger um eine ehrliche Antwort auf Fragen über seine Vergangenheit und die eigene historische Verantwortung drücken.

Die Fraktion Die Linke verweist in ihrem Antrag zu Recht darauf, dass eine ernstgemeinte wissenschaftliche Aufarbeitung der NS-Verbrechen ohne eine Untersuchung der Rolle des Bundeskanzleramtes nicht sinnvoll ist. Das ist richtig, aber das alleine reicht nicht aus. Da muss mehr passieren. Statt eines Flickenteppichs von einzelnen Untersuchungen brauchen wir eine koordinierte Aufarbeitung der Geschichte aller Bundesministerien und -behörden. Dort, wo es bereits Vorstudien gibt, dürfen sie nicht länger unbearbeitet liegen bleiben. So gibt es zum Beispiel im Landwirtschaftsministerium Voruntersuchungen, die damals von Renate Künast in Auftrag gegeben wurden und jetzt nicht weiter bearbeitet werden. Da müssen weitere Forschungsarbeiten folgen, auch über die Nachkriegszeit.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es muss vor allem sichergestellt werden, dass die Öffentlichkeit bei der Aufarbeitung der NS-Zeit aktiv einbezogen wird. Das muss auch Teil politischer Bildungsarbeit werden. Deshalb sollten Untersuchungsergebnisse aufgearbeitet und zugänglich gemacht werden, gerade auch für junge Menschen, beispielsweise in Form einer Dauerausstellung oder in einem digitalen Format. Denn eine umfassende Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ist nicht nur wichtig für das Verstehen von Kontinuitäten der Gegenwart, sondern vor allem auch für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Zukunft unserer Demokratie.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

 

Die Antwort auf die Kleine Anfrage zu den Plänen der Bundesregierung für die NS-Aufarbeitung der Bundesressorts finden Sie hier.