Still loving feminism – ein neuer Aufbruch für den Grünen Feminismus!

Katja Dörner, Gesine Agena, Renate Künast, Ulle Schauws, Brigitte Lösch, Theresa Kalmer, Ska Keller, Mona Neubauer

Am 23. Mai wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 65 Jahre alt. Gegen viele Widerstände erkämpfte Elisabeth Selbert 1949 die Formulierung in Artikel 3: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. 1994 wurde dieser Satz durch einen Handlungsauftrag ergänzt: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“. Die Notwendigkeit dieser Änderung lag damals auf der Hand, denn in Deutschland klafften Verfassungstheorie und Lebenswirklichkeit weit auseinander.

Wie sieht es heute aus? Der Kampf um die Rechte von Frauen ist so aktuell wie eh und je. Frauen sind weiterhin unterrepräsentiert, in den Führungsebenen der Unternehmen und in der Politik. Frauen erhalten einen deutlich geringeren Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit. Frauen sind weiterhin in ihrem Alltag mit Gewalt und Sexismus konfrontiert. Sie leisten den Löwinnenanteil an Sorge- und Pflegearbeit, ihnen bleibt aber die gesellschaftliche Anerkennung verwehrt. Trotzdem gilt vielen das Thema Gleichstellung als abgehakt. Diese Einstellung halten wir für falsch. Im Europa-Wahlkampf haben wir in vielen gesellschaftlichen Debatten einen Rollback erlebt. Rechtspopulistische Parteien argumentieren offensiv gegen Gleichstellung. Feministische Errungenschaften und die Gender-Theorie werden in Frage gestellt, sexistische Wahlkampfmaterialien als Tabu-Bruch gefeiert. Diesen Entwicklungen treten wir entschieden entgegen.

Gerade in der Grünen Partei, aber auch im Netz und an vielen anderen Orten machen sich Mädchen und Frauen für Feminismus stark. Die #aufschrei-Debatte hat gezeigt, dass Frauen die Abwertung ihres Geschlechts nicht mehr hinnehmen. Auch die Demos und Aktionen zum 8. März unter dem Motto „Still loving feminism“ haben gezeigt, dass der Feminismus notwendig und lebendig wie eh und je ist. Mit den Aktivistinnen und Aktivesten und mit der Vielfalt und Offenheit, die selbstverständlich Lesben, Trans-Menschen, Migrantinnen und andere einschließt, wollen wir zusammen einen neuen grün-feministischen Aufbruch starten. Denn Gleichstellung ist unser gutes Recht.

Deshalb sagen wir: Still loving feminism!

Kern unseres grün-feministischen Engagements ist die Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens. Die Möglichkeit, tatsächlich ein selbstbestimmtes Leben zu führen, gibt es für viele Frauen aber nur auf dem Papier. Deshalb ist es weiterhin notwendig, diese Benachteiligungen transparent zu machen und auch gesetzgeberische Maßnahmen zu deren Überwindung einzufordern. Eine grün-feministische Sichtweise nimmt Veränderungen in der Gesellschaft zur Kenntnis. So leiden heute viele Männer unter den Problemen falscher Rollenbilder, weil sie es schwer haben, zuhause zu bleiben oder „Care“-Berufe auszuführen. Männer, die nicht den konservativen Rollenbildern entsprechen, sind häufig diskriminiert – und Opfer von Sexismus. Feminismus bietet daher Vorteile für alle Menschen und ist kein Selbstzweck! Feminismus heißt, dass Menschen sich über ihr Geschlecht hinaus entwickeln können, ihrer Persönlichkeit entsprechend. Das ist gelebte Freiheit für alle.

Die Grüne Partei hat mit ihrer innerparteilichen Frauenquote schon viel bewirkt. Die Quote hat die Partei vielfältiger gemacht und Geschlechterdemokratie vorgelebt. Aber auch innerhalb der Grünen Partei sollten wir mehr Feminismus wagen. In der Diskussion um einen grünen Freiheitsbegriff muss klar sein, dass es um die Freiheit FÜR etwas geht. Für Frauen heißt das, die Freiheit zur tatsächlichen Gleichstellung und Entfaltung der Persönlichkeit.

Mit diesem Papier wollen wir einen neuen feministischen Diskussionsprozess innerhalb und außerhalb der Grünen Partei anregen. Wir laden alle ein – alte und junge Feministinnen und Feministen – mit uns zu diskutieren, über einen neuen grün-feministischen Aufbruch im Jahr 2014. Mit einigen, ausgewählten, konkreteren Punkten wollen wir in die Diskussion um entscheidende Weichenstellungen einsteigen:

 

  • Gewalt gegen Frauen: Ein Drittel aller Frauen werden Opfer physischer und/oder sexualisierter Gewalt – ein Großteil davon durch ihren eigenen Partner. Das macht den politischen Handlungsbedarf erschreckend deutlich.Sogenannte Vergewaltigungsmythen und die Sorge, das Verfahren auch durchzustehen, führen dazu, dass nur etwa fünf Prozent der Frauen den Mut finden eine Vergewaltigung anzuzeigen. Wir wollen die betroffenen Frauen schützen und stärken. Deshalb fordern wir für vergewaltigte Frauen zeitnah eine qualifizierte Notfallversorgung und -behandlung einschließlich (anonymer) Spurensicherung. Eine Notfallverhütung mit der „Pille danach“ muss in allen deutschen Krankenhäusern sichergestellt sein. Opfer von sexualisierter Gewalt sollen regelmäßig von geschulten und sensibilisierten Polizei- und JustizbeamtInnen betreut werden. Auch die Strafgesetzgebung muss überprüft werden. Neben einer verbesserten Finanzierung der Frauenhäuser und der Beratungsstellen für Frauen muss den Ursachen für die Gewalt gegen Frauen verstärkt der Kampf angesagt werden. Auch die finanzielle Unabhängigkeit der Frauen ist hier zentral.

 

  • Partizipation von Frauen: Besonders im Bereich der politischen Beteiligung von Frauen zeigt sich bis heute die mangelhafte Umsetzung von Artikel 3 des Grundgesetzes. Obwohl der Frauenanteil seit dem Einzug der Grünen Partei in Bundestag, Land- und Kreistagen deutlich gestiegen ist, stagniert er seit einiger Zeit. Auch im neuen Deutschen Bundestag beträgt der Frauenanteil nur 36 Prozent. Ohne die unterschiedlichen Frauenquoten von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der LINKEN und SPD wäre der Anteil weiblicher Abgeordneter noch deutlich geringer. Schon lange diskutieren wir als Abhilfe über ein „Parité-Gesetz“ nach dem Vorbild Frankreichs. In Baden-Württemberg ist hierzu ein erster Schritt parlamentarisch durchgesetzt. Das Kommunalwahlrecht wird durch eine Soll-Vorschrift für paritätisch besetzte Wahllisten verändert. Hier wollen wir weiter diskutieren und durch Anreizsysteme, Sanktionsmechanismen oder andere Instrumente den Frauenanteil in den Parlamenten deutlich erhöhen. Zur Geschlechtergerechtigkeit und zur Erfüllung des Anspruchs aus Artikel 3 Grundgesetz gehört die selbstverständliche Teilhabe von Frauen an der Demokratie. Wer die Hälfte der Gesellschaft stellt, muss auch die Hälfte der Funktionen innehaben.

 

 

  • Arbeitsmarkt und Steuersystem: Fast sämtliche Studien – darunter der 1. Gleichstellungsbericht der Bundesregierung – belegen immer wieder die negativen Auswirkungen des Ehegattensplittings auf die Erwerbsbeteiligung von Frauen. Das hat gravierende Folgen im Lebenslauf, denn viele Frauen landen aufgrund fehlender Rentenansprüche in der Altersarmut. Besonders die Kombination des Ehegatten-Splittings mit einem Mini-Job verhindert eine eigenständige Altersabsicherung. Deshalb stehen eine grundlegende Reform des Ehegatten-Splittings sowie die Überführung der Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse weiterhin oben auf unserer Agenda. Mit unserem großen Ziel der eigenständigen Existenzsicherung wollen wir erreichen, dass Frauen im Alter ausreichend abgesichert und in ihrer Lebensplanung zukünftig autonom sind. Mit einem Entgeltgleichheitsgesetz, mit der gezielten Förderungen von Mädchen in der Schule und Frauen im Beruf wollen wir erreichen, dass Frauen den gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit bekommen. Zur Gerechtigkeit in diesem Land gehört zwingend, dass Frauen auch materiell gleichgestellt sind.

 

  • Alltagssexismus: Die Diskussion um den Hashtag „#aufschrei“ hat das Ausmaß von Alltagssexismus in unserer Gesellschaft offengelegt. Frauen sind auch heute noch von sexistischen Sprüchen, Abwertungen aufgrund ihres Geschlechts bis hin zu sexualisierten Übergriffen betroffen. Und auch die Netzfeministinnen, die unter dem Hashtag #aufschrei unzählige Erfahrungen sammelten, wurden mit Beleidigungen bis hin zu Morddrohungen konfrontiert. Jeden Tag stehen wir sexistischer Werbung und der Abwertung von Frauen in den Medien gegenüber. Hier sehen wir gewaltigen Handlungsbedarf und unterstützen unter anderem Initiativen wie PinkStinks, die sich gegen sexistische Werbung einsetzen. Wir unterstützen alle Frauen, die den alltäglichen Sexismus, dem sie ausgesetzt sind, offenlegen und streiten gemeinsam mit ihnen gegen sexistische Strukturen und für eine Sexismus-freie Gesellschaft.

 

  • Pflege: Die Pflege von Angehörigen ist in Deutschland weiterhin in erster Linie Angelegenheit von Frauen. Zwei Drittel der Pflegenden sind weiblich. Insbesondere Frauen reduzieren ihre Zeiten der Erwerbsarbeitszeit (oder steigen nicht oder mit reduzierter Stundenzahl nach der Erziehungszeit wieder ein), um Angehörige zu pflegen. Reduzierte Rentenanwartschaften sind eine Folge. Neben einem Rechtsanspruch auf eine Pflegzeit ist eine Lohnersatzleistung für eine definierte Pflegezeit notwendig. Diese sollte analog zum Elterngeld so ausgestaltet sein, dass eine partnerschaftliche Aufteilung der Pflegearbeit innerhalb der Partnerschaft finanziell gefördert wird, um Anreize für eine stärkere Beteiligung von Männern in der Pflege zu setzen.

 

  • Beruf und Karriere: Der Anteil von Frauen in Führungspositionen ist nach wie vor gering – in Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung. Nach einer aktuellen Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung wiesen die Vorstände der 200 größten deutschen Unternehmen einen Frauenanteil von nur vier Prozent auf. In Bundesgremien fand sich bei der letzten Erhebung 2009 ein Frauenanteil von 24,5 Prozent. Im Jahr 2012 betrug der Frauenanteil in Führungspositionen bei Unternehmen mit mehr als 500 MitarbeiterInnen nur 8,7 Prozent. Der Frauenanteil bei Promotionen lag 2011 bei 44,9 Prozent, bei den Habilitationen waren es nur noch 25,5 Prozent. Es ist deutlich: Freiwilligkeit und ineffektive Gesetze wie das Bundesgremienbesetzungsgesetz haben keine Veränderungen gebracht. Wir wollen daher gesetzliche Quoten für Aufsichtsräte und Vorstände und ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft. Frauen aus Führungspositionen fernzuhalten, ist auch eine Vergeudung von Potenzialen und Ressourcen. Unter anderem mit familienfreundlicheren Arbeitsbedingungen wollen wir hier Veränderungen herbeiführen.

 

  • Zeitpolitik: Frauen tragen oft die Doppelt- und Dreifachbelastung aus Erwerbsarbeit, Sorge- und Familienarbeit. Viele Frauen sind damit nicht zufrieden. Wir alle brauchen auch Zeit für uns selbst, Zeit für Freunde und Familie, aber eben auch Zeit für Beruf und Karriere. Viele Männer hingegen würden heute gern ebenfalls mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen. Wir setzen uns für eine grundsätzliche Diskussion über Arbeit und Arbeitszeiten ein. Es braucht eine neue Zeitpolitik, nicht nur für junge Familien, sondern für die ganze Gesellschaft. Wir nehmen dieses Thema ernst und fordern die gerechte Arbeitsverteilung zwischen den Geschlechtern, sowie zwischen denen, die viel und denen, die gar nicht arbeiten, weil sie vom Erwerbsleben ausgeschlossen sind.

Mit diesem Papier wollen wir einen neuen feministischen Diskussionsprozess innerhalb und außerhalb der Grünen Partei anregen. In den letzten Jahrzehnten hat sich einiges verändert, aber viele Probleme und Strukturen sind auch geblieben: Darum ist Feminismus ist so aktuell und vor allem notwendig wie eh und je: Wir laden alle ein, mit uns über einen Aufbruch des Grünen Feminismus zu diskutieren.